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Radical Face - The family tree: The roots

Radical Face- The family tree: The roots

Nettwerk / Soulfood
VÖ: 20.01.2012

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Detektiv der Geschichte

Familie und Geschichte sind bekanntlich die amerikanischen Themen überhaupt. Bestandteil jeglicher Heldenerzählung und felsenfester Nukleus von Film über Roman bis Psychotherapie. Die Familie sitzt derart fest im Sattel der US-Kultur, weil sie an Geschichte nur ein paar Jahrhunderte vorzuweisen hat, sagen alteuropäische Neunmalklug-Soziologen. "Don't shrug my shoulders", kontern die Amerikaner: "Mia san mia." Eigenbrötler, Folkpop-Indietroniker und Multiprojektleiter Ben Cooper macht bei beidem nicht so wirklich mit. Zwar schiebt auch er Familie und Geschichte ins Zentrum seines zweiten Albums als Radical Face. Aber die Art und Weise, wie er es tut, strahlt in alle Richtungen zugleich.

So wiederholt Cooper auf Albumlänge beharrlich liebgewonnene Gesten, verdichtet sie jedoch mit jedem einzelnen Song zu etwas Herausragendem - ganz so, als ob er Geschichte und Genealogie ebenso als Wiederkehr wie als Neuanfang justieren wollte. Zugleich baut er das gesamte "The family tree: The roots" aus minimalen, doch ausschlaggebenden Konterspielern auf, die dennoch zu einem Gesamteindruck zusammenstimmen - und dabei an Harmonik und Eintracht kaum zu übertreffen sind. Die stampfenden Toms von "A pound of flesh" etwa werden von klickernden Rimshots und Händeklatschen begleitet, wodurch der Sound einmal gut durchgelüftet wird. Braucht es mehr Nachdruck, wie bei "Black eyes" und dem abschließenden "Mountains", so steht die Standtom halt einfach für sich. Und in der Tat werden die Songs durch diesen kleinen Trick des Weglassens zu den kleinen Kraftpaketen des Albums. Gitarren und Klaviere spielen ihre Melodien dazu in schwelgerischen Fünf- bis Sechstonfolgen, während Cooper seinen altbewährten Flüstergesang auf Milliarden ebenso altbewährter "Uhs", "Ohs" und "Hmms" bettet - und lyrisch schließlich so ziemlich alles "wrapped", was ihm noch zu lose erscheint.

Ähnlich groß geworfen und wohlkalkuliert ist das inhaltliche Konzept: In wechselnden Rollen generiert "The family tree: The roots" Lovestories, Sozialdramen und Vagabundengeschichten einer fiktiven Familie des 19. Jahrhunderts. Autobiographie ist das in den Bildern und den Blicken auf das Geschehen, Sittengemälde in seinen historischen Bedingungen - und uramerikanischer Familialismus eben von vornherein. Die Erzählung von "Family portrait" etwa schwingt zwischen Melodram und tiefschwarzem Kommentar durch seine gründliche, doch auch leichte Melancholie. Auch das Zwillingspaar "Severus and Stone" hält seine sprachlichen wie musikalischen Bilder genau zwischen schwerem Abschied, sehnsuchtsvollem Gedenken und traumwandlerischer Dichtung. "From here on out I wear this face for both of us", verspricht Cooper, bevor Kavierkaskaden, Handclaps und Toms zu einem ergreifenden letzten Tusch aufspielen. "The dead waltz" imaginiert sich hingegen als gütiger Nachbar, der die im Schlaf über Flusswasser wandelnde Tochter des Nebenmanns behütet, um sie vor den Übergriffen der Dorfgemeinschaft zu schützen. Ja, so einfach, so sehr Hollywood-Mystery, aber auch derart rührend ist das zum Teil.

Wenn dann noch Schifferklaviere durch das Fernweh von "Ghost towns" und "Always gold" branden, wird zudem überdeutlich, dass es Cooper mittlerweile perfekt gelingt, den Klang seiner Heimproduktionen edel auszustaffieren und zugleich nüchtern zu halten. Im Ergebnis entsteht so eine Spannungskurve, die das gewohnte Singer-Songwriter-Ich zu seinen Wurzeln zurückverfolgt - und hier einem gesellschaftlichen Feld aussetzt, das Cooper zwischen Dramatisierung, Realismus und Nostalgie in Schwingung bringt. Wie in alten Zeiten generiert "The family tree: The roots" Geschichte durch Geschichtenerzählen - und sucht sich seine Familie in uns allen. Der Hörer erhält so eine Menge zum Herumwühlen, Reflektieren und Innehalten, zum Wundern und Nachvollziehen, auch ohne Master's Degree in Amerikanistik. Irgendwann schon mal mit Mark Twain den Mississippi rauf und runter geschippert? Das reicht allemal. Jedes weitere Interesse entfacht Cooper ganz von allein. "I've seen more places than I can name / And over time they all start to look the same / But it ain't that truth we chase / No, it's the promise of a better place." An der Geschichte zu verzweifeln oder sie zu glorifizieren, das ist spürbar nicht Coopers Sache. Lieber nutzt er sie als kreatives Potenzial - ein Hoffnungsschimmer, der in seiner Musik niemals vergeht.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights

  • A pound of flesh
  • Black eyes
  • Severus and Stone
  • Ghost towns
  • Always gold

Tracklist

  1. Names
  2. A pound of flesh
  3. Family portrait
  4. Black eyes
  5. Severus and Stone
  6. The moon is down
  7. Ghost towns
  8. Kin
  9. The dead waltz
  10. Always gold
  11. Mountains

Gesamtspielzeit: 46:54 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
Demon Cleaner
2012-09-06 15:55:38 Uhr
"Ghost" ist auch sehr schön, mir gefällt "The Family Tree: The Roots" aber noch etwas besser. Habe mit diesem aber auch "angefangen".
The Triumph of Our Tired Eyes
2012-09-06 15:47:13 Uhr
Aber Ghost ist doch viel, viel besser Leute.
Demon Cleaner
2012-09-06 15:42:46 Uhr
....und bekommt viiieel zu wenig Aufmerksamkeit....
Demon Cleaner
2012-04-21 17:29:23 Uhr
Wunderbares Album. Vielleicht das Beste bisher dieses Jahr. Klingt teilweise nach alten Sufjan-Sachen, hat aber immer was eigenes.
Dreamseller
2012-01-18 12:42:16 Uhr
Wow, habe ich damit meinen Begleiter für das neue Jahr schon gefunden? Diese Melodien, diese Arrangements, diese Stimmung - klingt alles nach einem Meisterwerk. Todtraurig und aufbauend in einem, Klavierspuren wie tröstende Worte. Ich bin hin und weg.
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