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Einstürzende Neubauten - Strategies against architecture IV (2002-2010)

Einstürzende Neubauten- Strategies against architecture IV (2002-2010)

Potomak / Mute / Rough Trade
VÖ: 09.11.2010

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Ende neu

Dandys, die sich die Hände schmutzig machen. Poesie, die in den Gliedern schmerzt. Rhythmen, die sich stolpernd die Grooves brechen. Zauber, der aus ohrenbetäubender Stille wächst. Aufruhr, der sich der Kunst hintanstellt. Eloquenz, die Sprachliebhaber schaudern lässt. Einstürzende Neubauten inszenieren sich seit nun bereits 30 Jahren gemeinsam mit ihren Widersprüchen und sorgen ebenso lange für ein staunendes Publikum. Blixa Bargelds schroffe Lyrik wurde nach langem Zaudern Mitte der Neunziger endgültig vom Feuilleton akzeptiert. Anerkannte Kunst kann sich jedoch als brotlos erweisen, wenn sie sich nicht um Vorgaben und Ansprüche kümmert. Ruhm allein macht nicht satt.

Daher wagten Kunstschaffende wie Vincent Van Gogh erst im 19. Jahrhundert, sich ohne die Sicherheit des Mäzenatentums zu betätigen. Zuvor fand Kunst stets als Auftragskunst mit finanzieller Absicherung statt. Bargeld und seine Mitstreiter griffen diese alte Idee auf und boten ihren Anhänger einen lukrativen Deal: Sie ließen sich in verschiedenen Subskriptionsmodellen abonnieren. Wer Einstürzende Neubauten so unterstützte, konnte nicht nur die Entstehung neuer Klänge als Videostreams und MP3-Downloads zeitnah miterleben, sondern erhielt auch exklusive Tonträger mit oft experimentellem Songmaterial als Gegenleistung. Das eigene Werk im derartigen Fluss zu erleben, stimulierte Kreativität und Schaffenskraft der Einstürzenden Neubauten. Nebenher fielen mit "Perpetuum mobile", "Jewels" und "Alles wieder offen" gar reguläre Alben ab, für die die entstandenen Songs gerne permutiert und umarrangiert wurden. Die Jahre 2002 bis 2010 waren spannend für die Berliner Geräuschveredler.

Mit einer Werkschau eben dieser Zeit erscheint nun bereits der vierte Teil der "Strategies against architecture"-Reihe. Zwar sind die meisten dieser 26 Stücke von den verschiedenen Veröffentlichungen bekannt, aber selbst Supportern und Musterhaus-Abonnenten dürfte manch alternative Aufnahme, Live- oder Remix-Version unbekannt sein. Die zwei mulmigen "Grundstück"-Tracks "GS1" und "GS2" werden zusammengefasst, und für "X" vom ersten Supporters-Album, das sogar Objekt einer wissenschaftlichen Erörterung wurde, darf jetzt Judith Holofernes ein paar Sätze spendieren. Das gänzlich neue "Waiting for the call" wird aus zwei Liveversionen zusammengefügt, während "Weil weil weil" mit der "Freie Radikale in der Warteschleife"-Version eine dynamischere Entwicklung vom sanften Stupsen bis zum rumpelnden Drang gewährt wird.

Verglichen mit der stoischen Radikalität ihres Frühwerks haben sich Einstürzende Neubauten mit Subtilität und Stille noch gefährlichere Waffen angeeignet. Mit vielfältigen Texturen elektronischer und organischer Natur reichern sie ihre Songs an und lullen den Zuhörer damit bisweilen gar ein. So träumt sich "Tagelang weiß" zu schüchternem Pochen in den Schnee, "Ein leichtes leises Säuseln" ist genau das, und das schwelgerische "Susej" bevölkern sogar sehnsüchtige Streicher. Fußnoten und Zitate werden kunstvoll versteckt. "Insomnia", ebenfalls von "Supporters' album #1" gemahnt an Brian Eno und australische Ureinwohner, "Jeder Satz mit ihr hallt nach" flirtet mit sanfter IDM, und die Liveversion von "Meyou & Youme" mischt Kraftwerksche Eleganz mit melancholischer Zärtlichkeit. Dafür albert "Let's do it a dada" zum dräuenden Klappern der eigenen Vergangenheit.

Immer wieder kippt dabei der vermeintliche Wohlklang ins geliebte Chaos. Das kann wie bei der dronigen Bühnefassung von "Unvollständigkeit" sogar fast zehn Minuten dauern. Dann pochen die Beats wieder wie Kopfschmerzen und zerrende Effekte nagen am Geduldsfaden. Und manchmal, wie bei "Selbstportrait mit Kater" oder "Birth lunch death", reichen sich beide Aggregatszustände dieser famosen Band geduldig die Hände und ihre stets immanente Aggressivität darf sich wandeln. So fasst "Strategies against architecture (2002-2010)" nicht nur die vergangenen acht Jahre zusammen, sondern rundet die Karriere von Einstürzende Neubauten überaus würdig ab. Falls dies der Abschluss sein sollte, wären Klagen (beinahe) vermessen.

(Oliver Ding)

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Highlights

  • Selbstportrait mit Kater
  • Meyou & Youme
  • GS1 & GS2
  • Tagelang weiß
  • Susej
  • Birth lunch death

Tracklist

  • CD 1
    1. Perpetuum mobile (Single version)
    2. Selbstportrait mit Kater (Full version)
    3. Ein leichtes leises Säuseln
    4. Youme & Meyou
    5. Dead friends (around the corner)
    6. Insomnia
    7. Party in Meck-Pomm
    8. X
    9. Floorpiece / Grundstück
    10. Good morning everybody
    11. Waiting for the call
    12. Wo sind meine Schuhe?
    13. GS1 & GS2
    14. Palast der Republik
  • CD 2
    1. Sendezeichen Phase 3
    2. Tagelang weiß
    3. Wenn dann
    4. Jeder Satz mit ihr hallt nach
    5. Susej
    6. Magyar energia
    7. Birth lunch death
    8. Weil weil weil (Freie Radikale in der Warteschleife)
    9. Unvollständigkeit
    10. Let's do it a dada
    11. Bertolt Brecht und der Weltempfänger
    12. Musterhaus-Ausstellung

Gesamtspielzeit: 253:06 min.

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