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Gazpacho - Tick tock

Gazpacho- Tick tock

HWT / Neo
VÖ: 27.03.2009

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Wüste Gedanken

Als der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry am 29. Dezember 1935 in der ägyptischen Wüste mit einem Flugzeug abstürzte, hätte er wohl niemals im Entferntesten ahnen können, dass sein Reisebericht "Wind, Sand und Sterne" rund 74 Jahre später vertont werden würde. Das Buch von Saint-Exupéry, der vor allem durch Der kleine Prinz" bekannt geworden ist, beschreibt den Crash und den endlosen Weg durch die Sahara bis zur Rettung durch eine Beduinenkarawane fünf Tage nach dem Absturz. Wie es sich für eine vernünftige Prog-Band gehört, haben Gazpacho die Reise in lediglich vier Tracks geschnürt, von denen zwei allerdings mehrteilig daherkommen. Was auf den ersten Blick nach langweiliger Kopf-Musik aussieht, könnte nicht weiter davon entfernt sein als Lothar Matthäus von einem Trainerjob in der Bundesliga.

Stattdessen bewegen sich Gazpacho auf "Tick tock" beizeiten leichtfüßig und verspielt wie eine Britrock-Band, die plötzlich auf Prog macht. Von Muse geküsst eröffnen die Norweger die Konzeptplatte mit "Desert flight". Sänger Jan-Hendrik Ohme kopiert Matthew Bellamy mit gesünderer Atemtechnik. Die restlichen fünf Bandmitglieder zerren die Gitarren bis ans Äußerste und trommeln ohne Unterlass nach vorne. Das Einzige, was zu "Bliss" noch fehlt, sind die leuchtenden Sterne, die vom Himmel fallen. "Desert flight" fängt die Turbulenzen während des Fluges und den knallharten Aufprall in der Wüste ein. Über einen langen Fade-Out einer Pianomelodie mündet der Song in den ersten Teil von "The walk". Das Ungestüme weicht einem melancholischen, trägen und atmosphärischen Soundkleid, in das sich nach und die ersten orientalischen Klänge mischen. Die Strecke wird im zweiten Teil von "The walk" beschwerlicher und langatmiger, die Halluzinationen setzen ein, kein Wasser weit und breit. Ohme beschwört Saint-Exupérys Überlebensgeist und singt: "I'm the one to survive this / Soul is curled up tight".

Im Anschluss folgt der mit über 22 Minuten längste Track des Albums, das in drei Abschnitte geteilte "Tick tock". Den Grundton gibt ein beständiges Herzklopfen im Hintergrund, die Melodie zieht weite Bögen und mäandert quer durch die Sahara. Part 1 des Titelsongs ist der ruhigste Teil des Konzeptes und zugleich Herzstück des Longplayers mit abschließendem, brummendem Männerchoral aus dem Jenseits. Das weiße Licht. Die Gitarren und die Drums erheben sich erneut und füllen Saint-Exupéry wieder mit Leben, als letztes Aufbäumen gegen den nahenden Tod. Des Titelstücks zweiter Streich gewinnt an Fahrt und Energie und lässt die errettende Karawane am Horizont erscheinen, ganz hinten in der Ferne. Die Farben werden zwar bunter und die Töne etwas heller, doch die einsetzenden schwerfälligen Geigen und Mandolinen halten die Spannung aufrecht. Die flirrende Hitze ist geradezu zu spüren. Der dritte Abschnitt von "Tick tock" nimmt den Faden auf und treibt den Schriftsteller müden Schrittes durch den dichten Sand.

Den Abschluss, die Erlösung aus diesem Albtraum, markiert "Winter is never", der mit nicht ganz fünf Minuten kürzeste Track des Albums und alleine dadurch einzige Anwärter auf eine Singleauskopplung. "Winter is never" vertont fast balladesk die finale Rettung durch die Karawane und gleichzeitig die Beschwörung des Lebens, der Schönheit der Natur und die Erinnerung an die angenehmen Seiten der Existenz. "Outside / A yellow moon gives away the night / To morning sun that watches us / You lay your hand in mine / It's good, so good", beschreibt Ohme und beschließt damit Gazpachos fünftes Album. Ähnlich wie Mastodon mit "Crack the skye" scheuen sich Gazpacho nicht, der kurzatmigen Jetztzeit ein Konzeptalbum vor den Latz zu knallen. Anders als die Kollegen aus den USA ziehen die Norweger ihre Energie jedoch nicht aus dem Metal, sondern aus dem atmosphärischen Prog. Damit präsentieren Gazpacho gemeinsam mit Mastodon die zwei schönsten und schillerndsten Seiten der zwar gut gepflegten, aber in den letzten Jahren selten mit so viel Leidenschaft betrachteten Medaille. Steven Wilson wird stolz auf seine Nachkommen sein.

(Kai Wehmeier)

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Highlights

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Tracklist

  1. Desert flight
  2. The walk (Part I)
  3. The walk (Part II)
  4. Tick tock (Part I)
  5. Tick tock (Part II)
  6. Tick tock (Part III)
  7. Winter is never

Gesamtspielzeit: 48:41 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
Biba Butzemann
2010-09-29 18:26:53 Uhr
Lange habe ich es mir vorgenommen, nun endlich mal realisiert und mir das Album besorgt.

Was soll ich sagen: Fantastisch, vielleicht das Album des Jahres, wäre es nicht schon deutlich älter ;)

So muss Prog klingen!
Tim
2009-05-14 09:24:56 Uhr
Gerade der Stimme kann ich kaum Parallelen zu Muse bescheinigen. Bellamys Stimme ist wesentlich schriller, höher und auch bissiger als die von Ohme (das mach bei Tick Tock auch dem Konzept geschuldet sein).
Und nur vom Pathos her zwei Bands zusammenzurücken halte ich für sehr weit an den Haaren herbeigezogen. Aber gut, der Mensch braucht Vergleiche.
Ich finde es aber sehr wahrscheinlich, dass jemand, der Muse nicht mag, durchaus vom Gazpacho angetan sein kann.
Magoose
2009-05-14 00:10:33 Uhr
alleine die Stimme (besonders im ersten Song) legt den Vergleich nahe, dazu den Pathos...da ist Muse näher als bekannte Prog-Bands...

zu viel Pathos erzeugt eben keine Gänsehaut, sondern eher ein müdes Zucken...von daher, bestenfalls durchschnittliches Album imho
Tim
2009-05-13 12:50:50 Uhr
Also, ich weiß nicht. Den Muse-Vergleich konnte ich eh noch nie richtig nachvollziehen. Das trifft es einfach nicht.
Billyboy
2009-05-13 11:32:41 Uhr
Muse ist doch selber schon mit 3 Schüssen Prog.
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