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Nadine Shah - Holiday destination

Nadine Shah- Holiday destination

1965 / [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 25.08.2017

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Vom Ende der Sprachlosigkeit

Selten, aber manchmal, ist Fernsehen noch ganz hilfreich dabei, einiges über den Zustand der Welt zu erfahren. So 2014: Nadine Shah sah hin. Sommer, Griechenland, Insel Kos. Einige Flüchtlinge waren erkennbar. Wellen spülten sie an den Strand. Nicht alle standen wieder auf. Ein älterer Mann hielt seine tote Tochter in den Armen. Daneben klagten einige britische Urlauber, direkt vor der Kamera, ziemlich laut und rotköpfig: Die da drüben machen unseren Urlaub kaputt. Das Sonnen und Völlern, kaputtgemacht von denen, die ungefragt im Sand liegen. Shah war schockiert. Noch mehr als die kriselnde Flüchtlingssituation, konnte sie nicht fassen, wie fernab jeglicher Empathie gemault wurde. Also schrieb sie einige wütende Songs für ihr drittes, zähneknirschendes Album. Bitterkomisch heißt es "Holiday destination". Das Urlaubsziel, angekreuzt im Katalog für Pauschalreisen, entpuppt sich als Konfrontation mit einer Realität, die man in den Ferien so gerne vergessen würde.

Shah ist selbst Immigrantin zweiter Generation, mit pakistanischem Vater und norwegischer Mutter. Sie kennt Alltagsrassismus. In England wuchs sie als ein "anderes Kind" auf, das ihre Fremdheit erst als etwas exotisches und besonderes empfand, aber nach 9/11 wie viele andere ihre Herkunft verleumdete. Heute, als Künstlerin, die wahrgenommen wird, engagiert sie sich stark: Als Muslimin sprach sie sich öffentlich gegen den sogenannten "Islamischen Staat" aus; sie arbeitet bei Calm, einer Organisation, die Suizidgefährdeten hilft. Schließlich handelte ihr Debütalbum vom Selbstmord ihres Freundes. Erst kürzlich schrieb sie den Soundtrack für einen Dokumentarfilm ihres Bruders, der ein Flüchtlingslager in Gaziantep, zwischen der Türkei und Syrien besuchte. Schon dieser Dokumentarfilm, vor einigen Jahren aufgenommen, noch bevor sich die Flüchtlingslage derart zuspitze, war schier unerträglich.

"Holiday destination" ist Shahs Reaktion. All die angestaute Wut, die Traurigkeit, Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit, zusammengewuchtet in einem großen Gefühlswall. Der aufbrausend und wild ist, aber nicht moralisiert oder fingerzeigt. Was dazu führt, dass die vielen Gefühle ein musikalisches Durcheinander verursachen: Militär-Drums und Hörner in "Out the way", Twin-Peaks-artige Electro-Sounds in "Relief", krause Percussion im Groove von "Place like this". Die Songs sind zerstückelt, disharmonisch und fiebrig. Was Shah bei den britischen Touristen vermisste, das Einfühlsame, strömt sie mit ihren Songs nun derart massig aus, dass man sich überrannt fühlt. Musikalisch, wie auch textlich. Das ist Überempathie. Und trotzdem dreht sich alles um diese markante, gurgelnde, andauernd überbetonende Stimme.

"How you gonna sleep tonight?", schreit diese im nervenzehrenden Titelsong, der gleich zweierlei Szenarien aufreißt: Wenn jemand von der Terrasse des Hotelbunkers zuschaut, wie unweit davon Menschen ertrinken, und gleichzeitig knapp Gerettete nicht wissen, wohin sie sollen, wie sie dort hinkommen und wo sie schlafen können. Shah ist dabei energisch. Derart energisch, dass sie meinte, sich live zurückhalten zu müssen. Sonst würde sie von der Bühne fallen, den Kopf verlieren, gerade bei "Yes men", einem Stück über Massenmedien, Massenmanipulation und Massendummheit. Dann schwillt ihre Stimme wieder an, dehnt die Silben dramatisch aus. Mal wieder muss der etwas abgedroschene PJ-Harvey-Vergleich herhalten, auch weil Shahs E-Gitarrenspiel noch akzentuierter wurde. "Mother fighter" zeigt, wie überflüssig Soli sind, wenn Saiten geschabt, malträtiert, gestupst werden.

Shah weiß, dass ihr Album wenig verändert, da kann es noch so laut, kräftezehrend und ruppig sein. Um Dinge zu verändern, hätte sie Politikerin werden müssen, da ist sie realistisch genug. Dazu mangle es an einigem, sagte sie in einem Interview. Sie hat etwas anderes: Eine Stimme, die groß und belastbar genug ist, um für all diejenigen zu sprechen, die vorher stumm blieben. Auch wenn das vorerst nicht vorantreibt, sondern vielmehr überwältigt. Gewaltig.

(Maximilian Ginter)

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Highlights

  • Holiday destination
  • Yes men
  • Mother fighter

Tracklist

  1. Place like this
  2. Holiday destination
  3. 2016
  4. Out the way
  5. Yes men
  6. Evil
  7. Ordinary
  8. Relief
  9. Mother fighter
  10. Jolly sailor

Gesamtspielzeit: 50:07 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Robert G. Blume

Postings: 900

Registriert seit 07.06.2015

2017-08-25 16:48:21 Uhr
Ist seit heute draußen! Erster Durchgang lässt noch etwas ratlos zurück ...

Robert G. Blume

Postings: 900

Registriert seit 07.06.2015

2017-08-16 22:07:25 Uhr
Die zwei Vorgänger waren unglaublich gut. Bin sehr gespannt, ob sie das noch ein drittes Mal schafft.
Bis jetzt: "Out the Way" ist ziemlich schwierig, weil sperrig. "Evil" ist auch kein instant favorite. "Yes Men" hingegen ist großartig.
Egal. Leute, höret diese Frau. Sie ist wichtig.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26286

Registriert seit 08.01.2012

2017-08-16 21:23:12 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26286

Registriert seit 08.01.2012

2017-04-27 18:02:23 Uhr - Newsbeitrag
NADINE SHAH

Am 25.08. erscheint mit “Holiday Destination” das neue Album von Nadine Shah via 1965 Records. Es ist bereits das dritte Album der in South Shields, England geborenen Singer/Songwriterin und wird zehn neue Tracks enthalten. “Holiday Destination” beschäftigt sich vorallem mit dem Thema der eigenen Identität in politisch unsicheren Zeiten, denn als Immigrantin in zweiter Generation - ihr Vater stammt aus Pakistan - wird ihre eigene Persönlichkeit immer wieder hinterfragt und oft mit Alltagsrassismus beantwortet. Zusammen mit dem Produzenten Ben Hillier begann die Arbeit am neuen Album bereist in 2014.

“Out The Way” ist nun der erste Song, der vorab veröffentlicht wird. Hört Euch hier den Track an.

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