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Pharmakon - Bestial burden

Pharmakon- Bestial burden

Sacred Bones / Cargo
VÖ: 10.10.2014

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Musik für Buhgeschäfte

Kennt jemand noch die Dada-Klangforscher H.N.A.S.? Diese haben mal eine CD namens "Musik für Schuhgeschäfte" produziert, akustische Themenläden also. Max Goldt hingegen, einer ihrer auffälligsten Zeitgenossen, gab seinem zweiten Buch den forschen Titel "Ungeduscht, geduzt und ausgebuht". Kreuzte man nun beider Künstler Bilder und stellte sich einen Laden vor, in dem man zum Empfang von der Putzfrau beinahe was mit dem Schmutzwassereimer übergekippt bekäme, vom Fachverkäufer anschließend deshalb keineswegs für voll genommen und letztendlich dafür auch noch von der Filialleitung schief angemacht würde – dieses Album böte wohl die perfekte Untermalung dazu.

Immerhin handelt es sich dabei um eine musikalische Ausgebuht, ähm, Ausgeburt der Hölle, die ihresgleichen sucht. Gnädigerweise dauert diese neuerliche Schinderei namens "Bestial burden", die Margaret Chardiet alias Pharmakon ihrem leidgeprüften Anhang jetzt auferlegt, lediglich eine ordinäre Angestelltenpause lang, nämlich um die 30 Minuten. Der Vorgänger "Abandon", vom Kollegen Pilgrim bereits im letzten Jahr mit blutenden Ohren und irrem Dauergrinsen, aber völlig zu Recht belobhudelt, gewährte erst nach einer zerschlagenen Stunde, inklusive eines ellenlangen Bonustracks, nennenswerte Anzeichen von Erbarmen. Somit scheint das Vokabular der jungen Frau weitestgehend ohne Begriffe wie Mitgefühl oder Nächstenliebe auszukommen. War diese Reduktion aufs Allerwesentlichste aber tatsächlich so geplant? Vermutlich eher nicht.

Fakt ist: Chardiet ging es im Mai diesen Jahres aus heiterem Himmel gesundheitlich so schlecht, dass ihre gesamte Europa-Tournee kurzerhand abgeblasen werden musste. Ein Organversagen machte mehrere Eingriffe notwendig, welche die New Yorkerin neben dem besagten Körperteil obendrein jegliches Vertrauen in ihre eigene Physis kosteten. Zutiefst traumatisiert nutzte sie ihre einschneidenden Erfahrungen als Grundlage für sechs neue Exorzismen, die sie noch vom Krankenbett aus entwarf.

Im Vergleich zu ihrem Debüt aber werden sämtliche Operationen am offenen Lärm inzwischen ohne jedwede Narkosebehandlung durchgeführt und führen zu einem entscheidend rabiateren Erlebnis, soweit sich das abseits der Grenzen des guten Gehörs überhaupt noch beurteilen lässt. Eine Form der Klangverrohung, an der sie selbst allerdings erstaunlich schnell zu genesen scheint. Die Katharsis vom Katarrh, sozusagen. Nur dass sich sie sich eben nicht hinter einer oberflächlichen Pose verstecken muss, wie man es von vielen anderen Künstlern gewohnt ist, die sich am schwierigen Fach des Lärmens mit Stil versuchen. Chardiet stößt ihren inneren Dämonen stattdessen so unbekümmert und gekonnt Bescheid, dass die Biester fluchtartig Reißaus in möglichst weit entfernte Krisengebiete nehmen – Hauptsache, sie kommen nur weg von all diesem mörderischen Krawall und Remmidemmi.

"Bestial burden" braucht dann letzten Endes auch kein allzu großes Tamtam, um auf den Punkt zu kommen. Wer sich das Cover mit einer nachgestellten Autopsie der Künstlerin genauer anschaut, weiß ohnehin, was hier Sache ist. Chardiet deutet ihre prekäre Lage folglich nur kurz mit hektischen Atemzügen an, bevor der Synthesizer brummend übernimmt und es ohne Ausschweife steil hinab geht in die tiefste aller vorstellbaren Höllen: in die eigene. "Intent or instinct" presst unter räudigem Zischen, Zerren und schiefem Gejaule der Maschinen zu einem verlorenen Scott-Walker-Takt jene bange Frage hervor, ob der Mensch denn wirklich ein so vernunftgesteuertes Wesen sei, wie er es sich und seinesgleichen allzu gerne einredet. Das limbische System weiß darauf bestimmt die passende Antwort, so dass das erläuternde Gebrüll der Dame Pharmakon an dieser Stelle mehr als läuterndes Zubrot fungiert. Eine hinreißende Kakophonie, die nicht bloß Sesamstraßen-Oskar aus der Mülltonne als "schön scheußlich" abfeiern würde und die sämtlichen Erwartungshaltungen der Populärmusik mit Schmackes in den behäbigen Allerwertesten tritt.

"Body betrays itself" hält dieses Aggessionspotential weiter auf brutzelnder Siedestufe. Chardiet schreit sich das Misstrauen gegenüber ihrem eigenen Leib so herzhaft aus ebendiesem, dass einem der Kopf davon ganz vorzüglich schwirrt. Sie erinnert in ihrem von Selbstzweifeln zerfressenen Monolog überdies an die schroffe Ästhetik der frühen Sleeping Dogs Wake, einem britischen Post-Industrial-Duo, das sich bereits Ende der 1980er Jahre gerne halbnackt in Glasscherben sowie der eigenen Verzweiflung wälzte. Interessanterweise hat dieses Album mehrere solcher Aha-Erlebnisse zu bieten, in denen andere Einflüsse aus dem weiten Feld der Power Electronics spürbar werden, auch wenn das in dieser Form vermutlich nicht beabsichtigt war.

"Autoimmune" zum Beispiel fährt den schon in Throbbing Gristles Straftanz-Klassiker "Discipline" stupide pulsierenden Sequenzer erst groß auf, um ihn dann mit hitzigen Parolen, die von SPKs ersten Singles stammen könnten, gleich wieder von der Bühne zu keifen. "Primitive struggle" hingegen deutet unter unbarmherzigem Würgen, Speien und zu eisig-metalloider Rhythmik die sich an den eigenen Ausscheidungen und Körpersäften vergehenden Arbeiten des französischen Aktionskünstlers Jean-Louis Costes an, während das Titelstück schließlich zwischen den unflätigen Tiraden der Landsfrau Karen Finley sowie der einladend-apokalyptischen Welt des Japaners Ichiro Tsuji alias Dissecting Table ozilliert, dessen wesentlicher Einfluss für den modernen Death Industrial ohnehin nicht hoch genug gehalten werden kann.

Der Kampf von Pharmakon mag ein einsamer und gegen sich selbst gerichteter sein, der sicherlich auch für viele Menschen unhörbar und nicht nachzuvollziehen bleibt. Er ist dennoch wichtig und unverzichtbar für jene abseitigen Ecken alternativer Musik, in denen es noch um Energie, Fortschritt und Widerspruch geht. Sagt also ja zu Pharma K - oder guckt weiter Pippi Langstrumpf.

(Andreas Knöß)

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Highlights

  • Autoimmune
  • Bestial burden

Tracklist

  1. Vacuum
  2. Intent or instinct
  3. Body betrays itself
  4. Primitive struggle
  5. Autoimmune
  6. Bestial burden

Gesamtspielzeit: 29:05 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag
Smartphoneernte
2014-10-23 05:39:49 Uhr
der Vorgänger war sehr gut.
im Moment laufen hier gearde die Neuen von Kayo Dot, Inter Arma, Sunn O))),Jakob.
wird aber schnellstens nachgeholt.
Jan Wixxer
2014-10-22 21:29:53 Uhr
Meine Oma hat immer Reibekuchen gebacken.
A. Borcholte
2014-10-22 21:22:05 Uhr
Album des Jahres, ihr Maden!

Jennifer

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 4711

Registriert seit 14.05.2013

2014-10-22 21:00:12 Uhr
Frisch rezensiert. Meinungen?
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