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The Barr Brothers - Sleeping operator

The Barr Brothers- Sleeping operator

Secret City / Rough Trade
VÖ: 10.10.2014

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Die Folksamen

Es ist doch eigentlich ganz klar: Was (amerikanischer) Folk braucht, um derzeit noch einen Spannungsfunken zu entzünden, ist ganz gewiss nicht: noch mehr Pop. Denn diese Verschwisterung driftet ohnehin entweder ins Larmoyante, Authentizistische, ins kuschelig Waldschratige oder ähnlichen heuschobernden Unsinn. Was Folk stattdessen benötigt, ist: Eigensinn. Denn schließlich war Selbstbehauptung Thema und größtes Pfund des Folks von Beginn an. Er war und ist vergesellschaftet, was heißt: nicht etwa exotistisch, naturbelassen oder gar "original", sondern kritikfähig und im Zweifel lieber dissident als staatstragend. Stattdessen lungert nun immer mehr dösig vor sich hin melancholierende Innerlichkeit durch den Radio-Alltag. Aus Selbstbehauptung wird Selbstbezüglichkeit und äußert sich schlimmstenfalls weder im Outlaw noch im Einsiedler, sondern als kollektive Selbstbeweihräucherung – ein diffus euphorisierendes Wir-Gefühl, das nicht nur radikal-linke Schaufenster-Einschmeißer durchaus als brechreizerregend empfinden dürfen.

Die Montrealer Viererbande rund um die Brüder Andrew und Brad Barr rufen nun eben kaum einmal: "Wir – Hier – Juchheißa – Juchhei". Andererseits sind The Barr Brothers aber wahrlich auch keine Dissidenten im allgemeinen oder gar speziell musikalisch/textlichen Sinne. So verhindert ein überall hörbarer Traditionalismus, dass ihr Zweitwerk "Sleeping operator" die dekonstruktive Größe etwa der kanadischen Kollegen The Acorn erreicht. Dafür aber befindet sich ihr Folk ebenso tief im Radio-Poprock, wie er etwas abseitigere Felder zu Ornamentzwecken herbeizitiert. Und die Eleganz, die The Barr Brothers hierbei mit Harfe, afrikanischen Percussions, Getröte und Gestreiche in ihre Kompositionen legen, stimmt durchaus positiv bezüglich der möglichen Zukunft des Radio-Folk-Poprocks.

"Come in the water" etwa präsentiert ein klassisches Soul-Balladen-Riff, nimmt sich aber fast sieben Minuten Zeit, um ein fluffiges Schlagzeug, Atmo-Bläser und Slidegitarren bis zur finalen Erschöpfung hin auszubreiten. "Wolves" entrollt seinen Instrumentenpark über ein paar simple akustische Grunge-Akkorde, während "England" sein Anti-Kriegsjammertal atmosphärisch dicht nach Hause schaukelt. Der mehrstimmige "Huuu-huuu"-Klagegesang des abschließenden "Please let me go" gemahnt zugleich an die düsteren Visionen eines Mark Kozelek und die überzogene Trauerstimmung, wenn irgendeiner Heulsuse in irgendeinem Disney-Zeichentrickfilm gerade mal wieder irgendein Erziehungsberechtigter flöten gegangen ist. "Half crazy" hingegen ist nicht mehr als ein perfekt aus dem Hobo-Gebüsch herausgetorkelter Blues-Crooner – allerdings ohne jegliche Parkettstampfer-Gefahr. Und selbst der handbeklatschte Abschluss des Openers spielt nur ganz kurz die Exotismus-Karte und wird gleich darauf vom vollmundigen Beat des folgenden, ganz und gar hervorragenden "Love ain't enough" um- und schließlich überspült.

Wie eigentlich überall auf "Sleeping operator" musizieren The Barr Brothers hier mit einer einnehmenden Ruhe und Konsistenz. Sie drehen zu den Strophen einfach das Instrumentarium raus, um genug Steigerungspotenzial allein aus dem Zuschalten der Instrumente gewinnen zu können – und sparen sich die Akkordfolge dabei für den ersten Takt, während sie den jeweils zweiten als rhythmisches Ruhepolster vor sich hin flackern lassen und somit für die ein oder andere Gegenphrase, vor allem aber für Brad Barrs entspannte, doch stets auch an der Grenze zum Prince-Soul operierende Stimme freisperren. Wenn allerdings "Little lover" in Polyrhythmik durchstartet, ist mit einem Mal der frühe Peter Gabriel zu Gast in diesen Lungenflügeln. Keine Ahnung, wer ihn eingeladen hat, doch gemeinsam mit den Barr Brothers wird er die Party schon zur guten Nacht schaukeln.

Zumal wenn die Klimax stets derart zielsicher angesteuert wird, beziehungsweise "Valhallas" und "Even the darkness has arms" so lange durch dezente Ragtime-Bässe und perlende Diskanten picken, bis sich die Leadmelodien öffnen wie Kaffee zu Sonnenaufgang, Bierflaschenklirren zu Sonnenuntergang und die dazugehörigen tröstenden Schulterklopfer von Leuten, die es wert sind. Schon recht – all das bedeutet keineswegs den Straßenkampf der Unbeugsamen. Aber genau das ist eben auch das Tolle an dieser Platte: Die Abweichungen und Zutaten der Barr Brothers sind einfach viel zu dezent, um ihre Musik stante pede in irgendein Subgenre wegschieben zu können und damit dem Mainstream-Vergessen anheimzugeben. Doch da die ganze Karre eben derart im Mist festgefahren ist, reicht das durchaus für so einiges Schulterklopfen – zu Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und für eine Band, die es wert ist.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights

  • Love ain't enough
  • Even the darkness has arms
  • Little lover
  • England
  • Please let me let it go

Tracklist

  1. Static orphans
  2. Love ain't enough
  3. Wolves
  4. Even the darkness has arms
  5. Come in the water
  6. Little lover
  7. How the heroine dies
  8. Valhallas
  9. Half crazy
  10. Bring me your love
  11. England
  12. The bear at the window
  13. Please let me let it go

Gesamtspielzeit: 60:33 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Herr

Postings: 2170

Registriert seit 17.08.2013

2015-09-08 21:29:50 Uhr
Das Ausbleiben an Resonanz lässt die Hoffnung auf eine bessere Welt trüben.
sadcaper
2015-09-05 21:54:06 Uhr
Ein gar sehr großartiges Album. Ganz coole Rezi irgendwie. :-)

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2014-10-15 22:28:05 Uhr
Schönes Album. Verdient mehr Aufmerksamkeit.

Jennifer

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 4711

Registriert seit 14.05.2013

2014-10-15 21:53:46 Uhr
Frisch rezensiert. Meinungen?
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