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Autechre - Exai

Autechre- Exai

Warp / Rough Trade
VÖ: 01.03.2013

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Molekülwelten

Zu verstehen, was zwischen den Schaltkreisen von HAL 9000 in Stanley Kubricks Filmklassiker "2001: Odyssee im Weltraum" vorgeht, scheint nicht schwer. Der Film folgt einer verzwickten, doch verständlichen narrativen Struktur, in deren Fortschreiten sich der Bordcomputer als eigenständiger Charakter etabliert. Dies wird vor allem aus Arthur C. Clarkes Roman-Tetralogie klar, der 1968 mit "2001: A Space Odyssey" die geniale Grundlage für Kubricks Meilenstein schuf und im Laufe der Jahrzehnte die Geschichte und ihre Figuren sukzessive ausbaute. Versucht man wiederum anhand der musikalischen Darbietung in die Köpfe von Rob Brown und Sean Booth aka Autechre zu schauen, wird bei dem einen wie dem anderen eine Parade von Fragezeichen vor dem geistigen Auge entlangdefilieren. Denn auf narrative Strukturen, Verständlichkeit oder gar Eingängigkeit verzichten die Briten seit ihrem 2001er Opus "Confield". Was dort im verstörenden Sinne seinen Anfang nahm, zieht sich seit rund einer Dekade durch ihr Schaffen und prägt auch ihren neuesten Hirnzerbeuler "Exai", der sich auf opulenter Doppel-CD als werkimmanentes Opus Magnum präsentiert.

Autechres mikrokosmische Musikkunst ist vermutlich nur denen verständlich, die Molekülphysik oder Quantenmechanik als Hobby nach Feierabend betreiben. Das ist kein großes Geheimnis. Browns und Booths Electronica erschafft Welten, in denen Mikrochips in den Quantenschaum implementiert werden. Das Hören von Autechre ist wie ein Blick in eine Petrischale: Die kleinsten Partikel finden sich dort anatomisiert und auf mikroskopische Größe reduziert. Gemäß eines nicht bekannten Formationsmodus rekonstituieren sie sich, bilden größere Einheiten, folgen kaum erforschten, aber determinierten Bahnen, bis sie mit weiteren Partikeln kollidieren und eine neue Gruppierungsstruktur annehmen. Dies wiederholt sich in repetitiven Intervallen, bis so etwas wie die nächstgrößere Ebene erreicht ist. Auf dieser brechen die Muster erneut, die Gebilde zersplittern und suchen nach neuen Konnektionspunkten, die wiederum in den Untiefen des Unerforschten zerschellen. Dergestalt lädt "FLeure" in das Universum von Autechre ein und erschafft vor dem Hörer das ganz andere, vor dem man entweder in Ehrfurcht erzittert oder sich erschreckt abwendet.

Dabei verweigern die beiden Künstler jede Sinnzuschreibung. Kein Grad von Vetrautheit darf sich in den Genuss dieser Kleinkunst einschmuggeln. Nonsens-Titel wie "Irlite (Get 0)", "Runrepik" oder "Y JY UX" entfremden beim bloßen Ansehen und erschaffen damit das Fremdartige ihres Universums, was einen unendlichen Interpretationszwang auslöst - im Internet findet man rege Debatten um die Sinneinheiten der Songbetitelung. Wenn die Welt keinen Sinn mehr ergibt, benötigt man ein neues Alphabet, das wusste schon Mr. E von den Eels. Bei Autechre scheinen allerdings nur die Schöpfer die Sinnzuschreibungen zu kennen. Der Hörer muss sich innerhalb ihres Kosmos die Bedeutungen selbst erschließen.

Es ist nie klar, wo genau in der Petrischale Autechre ihre mikromolekularen Komplexitäten ansiedeln. Die Spanne reicht synchron von arhythmisch, über rhythmisch bis polyrhythmisch. Diachron werden dabei in (un)geregelten Arrangements Genregrenzen aufgelöst. "Jatevee C" wird von sachten Ambientpassagen umspielt und weckt träge Reminiszenzen an alte "Tri repetae"-Tage, wogegen "Flep" mit seiner atmosphärischen Mediumvertracktheit Anleihen bei Aphex Twins "Drukqs" macht. Bei "Nodezsh" mit seinem im nostalgischen Atari-Geflicker wabernden Drone ist es kaum auszumachen, ob das Label IDM noch Berechtigung hat. In Richtung "Confield" steuert das vom Titel eher konventionelle "Cloudline". Der Titel allerdings sollte nicht zu der Annahme verleiten, man habe es mit einem eingängigen Song zu tun. Wo bereits "Confield" buchstäblich verstörte und so einen ungeheuren Faszinationsgrad entfaltete, arbeitet auch "Cloudline" mit refraktierten Stümmelbeats, die dumpf an metallenen Blechplatten entlangbröseln wie arhythmisch fallende Regentropfen in einer parzellierten, molekularen Welt. Die Briten konstruieren dabei mit "Exai" ein Universum, das so viel komplexer und undurchsichter ist als etwa die zu eingangs erwähnte Denke von HAL 9000. Obwohl Autechres Musik klingt, als befände sich der Hörer zwischen den Schaltkreisen dieses berühmten Bordcomputers. Allerdings ist von Emotionen auf dem neuen Output keine Spur. Dafür gibt es bis zum nächsten Album wieder genug Futter für eine Sinnsuche.

(Peter Somogyi)

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Highlights

  • Jatevee C
  • Flep
  • Nodezsh
  • Cloudline

Tracklist

  • CD 1
    1. FLeure
    2. Irlite (Get 0)
    3. Prac-f
    4. Jatevee C
    5. T ess xi
    6. VekoS
    7. Flep
    8. Tuinorizn
    9. Bladelores
  • CD 2
    1. 1 1 is
    2. Nodezsh
    3. Runrepik
    4. Spl9
    5. Cloudline
    6. Deco loc
    7. Recks on
    8. Y JY UX

Gesamtspielzeit: 107:19 min.

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