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Tocotronic - Wie wir leben wollen

Tocotronic- Wie wir leben wollen

Vertigo / Universal
VÖ: 25.01.2013

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Die Vergänglichkeit der Dinge

Die durchschnittliche Lebenserwartung in West- und Mitteleuropa ist in den letzten Jahrzehnten drastisch gestiegen. Schön, sagen die einen, hat man eben länger was von Oma und Opa. Doof nur, dass die Alten und Schwachen als Ballast für die heruntergerockten Volkswirtschaften gelten. Sie nehmen viel Zeit und Geld in Anspruch, und der Nutzen ist auch eher gering, sieht man einmal von den warmen Socken ab, die Großmutter eben so häkelt. Das Altern ist - so viel steht zweifelsohne fest - ein gesellschaftlich bedeutendes Thema, das lehren uns nicht zuletzt zahlreiche ARD-Themenwochen und Spiegel-Berichte. Mit ihren 17 neuen Songs widmen sich nun auch Tocotronic, die Weltmänner des hiesigen Indierocks, dem Sujet. Auf ihrem nunmehr zehnten Studioalbum beleuchten Dirk von Lowtzow und Co. die Vergänglichkeit der Dinge und destillieren daraus zahlreiche Ideen, wie das restliche Dasein gestaltet werden könnte. Das geschieht logischerweise nicht in Form eines schnöden Ratgebers, sondern vielmehr als Thesenpapier, das diskutiert werden will.

"Wie wir leben wollen" suhlt sich auch nicht in moralinsaurer Alltagsphilosophie: Tocotronic sind eben keine Verfechter des Kalenderblatts, ihr Augenmerk richtet sich auf die Dinge, die nicht immer offensichtlich sind. Sicher, dies mag ab und an zu einer gewissen Überkomplexität führen, doch darauf muss man sich nun mal einlassen können. Parolenhafte Slogans sind schon lange passé, von Lowtzow erzählt in Gleichnissen, die entschlüsselt werden wollen. Die Deutungshoheit wird dabei bewusst dem Rezipienten überlassen. Tocotronic sehen sich nicht als Autoren, die über eigene Erlebnisse berichten und den Hörer damit zwangsläufig in eine passive Rolle drängen. Authentizität führt zu Faulheit. "Wie wir leben wollen" erfordert hingegen eine aktive Auseindersetzung, was für den ein oder anderen sicher abschreckend wirkt. Doch wer sich auf das Spiel einlässt, wird mit den formvollendetsten Stücken belohnt, die Tocotronic in ihrer nunmehr 20 Jahre währenden Laufbahn komponierten.

Schon zu Beginn von "Wie wir leben wollen" zelebriert der mittlerweile leicht ergraute Dirk von Lowtzow den allmählichen, physisch erlebbaren Verfall: "Hey, hey, ich bin jetzt alt / Hey, hey, bald bin ich kalt" lauten die ersten programmatisch-prophetischen Worte des Openers "Im Keller", der bereits früh und relativ unmissverständlich klarmacht, dass Tocotronic mit diesem Album eine bislang ungeahnte Körperlichkeit thematisieren. Dass es dabei auch um Geschlechterrollen und Identitätsdiffusion geht, liegt auf der Hand. Im herrlich harmonischen "Neutrum" nähern sich Tocotronic diesem Komplex an und bringen ihre Idee der kalkulierten Übergeschlechtlichkeit auf den Punkt: "Ich bin ein Neutrum mit Bedeutung / Doch kein Teil von mir ist echt / Ein Emporkömmling mit Neigung / Aus vergessenem Geschlecht." Der Kerngedanke dahinter ist natürlich folgender: Jeder Mensch vereint weibliche und männliche Attribute in sich, geschlechtliche Eindeutigkeit, wie wir sie über Kleidung und Habitus gerne präsentieren, ist meist eher Wunsch als Wirklichkeit.

Im flotten "Exil" greifen Tocotronic diesen Gedanken noch einmal auf und führen jegliche Hierarchisierung äußerer und innerer Merkmale ad absurdum: "Ich bin krank / Ich bin ein weißer, heterosexueller Mann / Du kannst mich abschieben, wenn Du willst." Die Nummer selbst erinnert dabei an die poppigen Momente der Rolling Stones, was schlussendlich ja eine erstklassige Text-Ton-Schere ergibt. Das folgende "Die Revolte ist in mir" beschreibt hingegen auf wunderbar drastische Weise den Kontrollverlust, das Auflehnen des schwächelnden Körpers gegenüber den Ambitionen und Ehrgeizgefühlen, denen man sich in der heutigen, vergifteten Leistungsgesellschaft ausgesetzt sehen kann. Tocotronic sind in solchen Momenten gedanklich nahe an ihrer frenetisch gefeierten "Kapitulation", nur dass "Wie wir leben wollen" den Blick auf das Detail, den Mikrokosmos Mensch richtet.

Die Platte wurde einmal mehr von Produzenten-Tausendsassa Moses Schneider aufgenommen, dem man sich bereits für die Berlin-Trilogie anvertraut hatte. Bewusst entschieden sich Tocotronic für die analoge Aufnahme, die auch deutlich besser zum neuen Sound passt: Tocotronic lassen frivolen 60s-Gitarrenpop aufleben, orientieren sich dafür an den Beatles und den Beach Boys, ohne notwendigerweise deren Stil zu kopieren. Auf einen Sound festnageln lassen sich Tocotronic ohnehin nicht mehr: Neben tollen Pop-Harmonien spielen die vier Herren schlauen Shoegaze, klingen bei "Warm und grau" unnahbar und distanziert und finden in den traumhaft-psychedelischen Klängen von "Neue Zonen" eine neue Identität, die ihnen richtig gut steht. Ein herausragendes Stück wie ebendieses unterstreicht die Wichtigkeit von Tocotronic auch im 20. Bandjahr: Wer mit so viel Stil und Grazie altert, der hat eigentlich ewiges Leben verdient. Nur ist das ja leider überhaupt nicht wünschenswert.

(Kevin Holtmann)

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Highlights

  • Neutrum
  • Vulgäre Verse
  • Exil
  • Neue Zonen

Tracklist

  1. Im Keller
  2. Auf dem Pfad der Dämmerung
  3. Abschaffen
  4. Ich will für Dich nüchtern bleiben
  5. Chloroform
  6. Neutrum
  7. Vulgäre Verse
  8. Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
  9. Die Verbesserung der Erde
  10. Exil
  11. Die Revolte ist in mir
  12. Warm und grau
  13. Eine Theorie
  14. Höllenfahrt am Nachmittag
  15. Neue Zonen
  16. Wie wir leben wollen
  17. Unter dem Sand

Gesamtspielzeit: 69:24 min.

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User Beitrag

Old Nobody

User und News-Scout

Postings: 3656

Registriert seit 14.03.2017

2022-02-02 21:05:33 Uhr
Ich seh grade, dass ich dem Album vor 3 Jahren ne 8/10 gegeben habe und der Schall und Wahn nur ne 7,5/10. Wie wir leben wollen würde ich inzwischen einen ganzen Punkt nach unten korrigieren wollen. Zu groß ist das Gefälle innerhalb des Albums.Da entsteht insgesamt einfach kein Sog oder zumindest ne Stimmung die einen ein bisschen mitzieht.Diese wäre aber bei so einem langen Album nötig,finde ich.
Hat definitiv seine Highlights,vor allem mit dem Triple 7-9.Aber eben auch einige Lowlights vor allem das Doppel aus 5 und 6.Man hätte alleine in der ersten Hälfte gerne auf 4-5 Songs verzichten dürfen,weniger hätte dem Album insgesamt gut getan.
Die Schall und Wahn sehe ich hingegen trotz des Totalausfalls Bitte oszillieren sie bei ner knappen 8,5/10. Da sind einige Songs,die ich mal schwächer fand, zum Teil gewaltig gewachsen.Allen voran Die Folter endet nie.


01. Im Keller 6/10
02. Auf dem Pfad der Dämmerung 6/10
03. Abschaffen 8/10
04. Ich will für dich nüchtern bleiben 6/10
05. Chloroform 4/10
06. Neutrum 3/10
07. Vulgäre Verse 8,5/10
08. Auf dem Grund des Swimming Pools 10/10
09. Die Verbesserung der Erde 8,5/10
10. Exil 4/10
11. Die Revolte ist in mir 6,5/10
12. Warm und Grau 8,5/10
13. Eine Theorie 5/10
14. Höllenfahrt am Nachmittag 6,5/10
15. Neue Zonen 7,5/10
16. Wie wir leben wollen 10/10
17. Unter dem Sand 7/10

Felix H

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 9300

Registriert seit 26.02.2016

2022-02-02 19:54:25 Uhr
"Exil" ist sowas von kein Lowlight.
Sonst passt Machinas Liste.

Bernd

Postings: 1006

Registriert seit 07.07.2020

2022-02-02 19:30:02 Uhr
Schall und Wahn ist perfekt, 10/10

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2022-02-02 18:16:49 Uhr
Tatsächlich wären das auch meine 2 Lowlights der verbleibenden Tracklist. :D

qwertz

Postings: 926

Registriert seit 15.05.2013

2022-02-02 18:08:43 Uhr
Streich noch "Nüchtern", "Vulgäre Verse" und "Exil", dann würde ich das unterschreiben.
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